Von Brachen zu Potentialen: Alte Industriegebäude neu denken

Autor: Lena Müller-Naendrup

Vor kurzem haben wir an einem spannenden Projekt in der österreichischen Bergregion Vorarlberg gearbeitet. Gemeinsam mit einem engagierten lokalen Team in Ludesch, dem kleinen Ort am Eingang des schönen Walgau-Tals, haben wir uns an die Umgestaltung eines alten Steinbruchs gemacht.

Unser Auftrag? Neue Möglichkeiten für die Umnutzung des Steinbruchs zu finden, die eine langfristige und nachhaltige Wirkung auf die örtliche Gemeinschaft haben werden. In diesem Blogbeitrag gehen wir auf den Zweck und die Vorteile der Umnutzung ehemaliger Industriestandorte ein und berichten über die Herausforderungen, mit denen wir konfrontiert waren, sowie die Lehren, die wir aus unserem laufenden Projekt in Vorarlberg gezogen haben.

Das zurückgelassene Erbe

Aufgelassene Industriestandorte – vom stillgelegten Bergwerk über leere Werften und aufgelassene Fabriken bis hin zu stillgelegten Mühlen – gibt es nicht nur in Vorarlberg. Sie finden sich überall auf der Welt. Für die einen sind sie Symbole vergangener Gemeinschaften und schützenswerte Ikonen, für die anderen sind sie Narben in der Landschaft. Unabhängig von der persönlichen Wahrnehmung stellen vernachlässigte Ortsbilder jedoch eine ökonomische und ökologische Belastung für die umliegenden Gemeinden dar.

Dies ist nicht nur ästhetisch unschön, sondern auch eine Verschwendung von Bauland. Städte können den steigenden Bedarf an Wohnraum, insbesondere an bezahlbarem Wohnraum, kaum noch decken. Flächenknappheit und Klimakrise machen Nachverdichtung zu einem zwingenden Schritt in eine nachhaltigere Zukunft. In diesem Zusammenhang ist die Einbeziehung bestehender leerstehender Gebäude und Flächen von entscheidender Bedeutung, um diesen Herausforderungen zu begegnen.

Old ideas can sometimes use new buildings. New ideas must use old buildings.

Jane Jacobs

Laut Ruth Lang, Architektin und Architekturprofessorin am Royal College of Art in London, sind 80 % der für 2050 prognostizierten Gebäude bereits gebaut. Diese Statistik unterstreicht die Notwendigkeit, den Schwerpunkt von der Errichtung neuer Gebäude auf die Umnutzung bestehender Strukturen zu verlagern. Auf diese Weise können wir die mit dem Bauen verbundene graue Energie erheblich reduzieren.

Die graue Energie ist die Gesamtmenge an Energie und Kohlenstoffemissionen, die für die Gewinnung von Baumaterialien, den Transport zur Baustelle, den Bau des neuen Gebäudes, seine Instandhaltung und schließlich seinen Abriss benötigt wird. Durch die Umnutzung bestehender Gebäude, anstatt sie abzureißen, um Platz für Neubauten zu schaffen, kann ein erheblicher Prozentsatz der gebundenen grauen Energie eingespart werden. Wie es der Präsident der AIA 2018 formulierte: „Das grünste Gebäude ist das, das bereits steht“.

Design für Lebenszyklen und Wiederverwendung

Nachhaltige Architektur geht über die Reduzierung von Emissionen in der Gegenwart hinaus und beginnt mit einem zukunftsorientierten Ansatz, der auf längere Lebenszyklen ausgerichtet ist. Leider wird bei vielen unserer heutigen Bauwerke die Dimension der Langlebigkeit nicht berücksichtigt. Es ist schwierig, die langen Lebenszyklen der von uns errichteten Bauwerke zu erfassen, da ihre langfristigen Auswirkungen nicht immer sofort sichtbar sind.

Alte Fabriken, Mühlen und stillgelegte Bergwerke sind Beispiele für die Vernachlässigung ehemals funktionaler Gebäude. Diese industriellen Strukturen, die einst für die lokale Wirtschaft und die Gemeinden von entscheidender Bedeutung waren, wurden aufgrund von Standortverlagerungen und technologischem Fortschritt aufgegeben oder nicht mehr ausreichend genutzt.

Während ihr ursprünglicher Zweck in Vergessenheit geraten ist, haben die Gebäude und Materialien überlebt. Bei dem Versuch, den Lebenszyklus dieser nicht mehr genutzten Strukturen zu verlängern, haben wir festgestellt, dass es zwei Hauptziele gibt, die bei Umnutzungsprojekten verfolgt werden sollten:

  1. Rückgewinnung eines Zwecks : Wir müssen vernachlässigte Strukturen unter Berücksichtigung aktueller sozialer, ökonomischer und ökologischer Bedürfnisse neu konzipieren und umgestalten und neue Nutzungsmöglichkeiten identifizieren. Indem wir sie für zukünftige (neue) Anforderungen und Bestrebungen umgestalten, hauchen wir diesen Räumen neues Leben ein und machen sie relevanter und wertvoller.
  1. Bauen für die Zeitlosigkeit: Ziel sollte es sein, diese Standorte so zu renovieren oder umzubauen, dass sie im Laufe der Zeit anpassungsfähig bleiben und ein breites Spektrum zukünftiger Programme und Bedürfnisse abdecken können. Es muss sichergestellt werden, dass sich diese Räumlichkeiten mit den sich ändernden Umständen weiterentwickeln, indem sie flexibel und vielseitig gestaltet werden.

Wie können wir diese Transformation erreichen? Wie können wir die Funktion eines alten Ortes oder Gebäudes wiederbeleben und seine Bedeutung für künftige Generationen sichern? Der Schlüssel liegt darin, sich mit der Vergangenheit und der Gegenwart auseinanderzusetzen und gleichzeitig für die Zukunfts zu bauen.

Erst erforschen, dann gestalten! 

Die Herausforderung, mit bestehenden Gebäuden oder Standorten zu arbeiten, erfordert eine Abkehr von traditionellen Planungsmethoden. Anders als bei einem leeren Blatt Papier erfordert die Entwicklung einer Umnutzungsstrategie einen behutsamen und sensiblen Entwurfsprozess. Es geht nicht darum, eine völlig neue Vision durchzusetzen, sondern die Qualitäten des Vorhandenen zu erkennen und darauf zu reagieren.

Die Entwicklung von Umnutzungskonzepten mag von manchen als kreativ einschränkend empfunden werden, ist aber ein Prozess, der verborgene Potenziale freilegt und neue kreative Funken entfacht. Es geht darum, einem Gebäude neues Leben einzuhauchen, zeitgemäße Anforderungen zu integrieren und gleichzeitig seine einzigartige Identität und seinen Charakter zu bewahren. Es gilt, eine Brücke zu schlagen, die die Zukunft nahtlos mit dem Alten und der Gegenwart verbindet.

Dies erfordert eine geduldige Erforschung der Identität des Bauwerks und ein Verständnis seiner sozialen und kulturellen Bedeutung innerhalb der lokalen Gemeinschaft. Es geht darum, die physischen Elemente zu erkennen und die emotionalen und historischen Fäden zu berücksichtigen, die in das Gewebe des Ortes eingewoben sind.

Die Integration des Alten in das Neue erfordert eine sorgfältige und durchdachte Herangehensweise – die Strategie, die dem Entwurf zugrunde liegt, ist oft wichtiger als die ursprünglichen Ideen, die durch die Strategie in einen Entwurf verwandelt werden.

Sneak Preview in Ludesch: Das Potential eines Steinbruchs freilegen

Unser Projekt in Vorarlberg, bei dem es um die Entwicklung von zukunftsfähigen Konzepten und Ideen für einen alten Steinbruch ging, startete ohne eine vorgegebene Vision. Stattdessen ging es in einer explorativen Phase darum, die verborgenen Potentiale des Steinbruchs zu entdecken und gemeinsam ein neues Konzept für seine Zukunft zu entwickeln.

Der Projektstart im November 2022 war ein lebendiger Auftakt, als der Steinbruch seine Tore für die Öffentlichkeit öffnete und das ganze Jahr über eine Reihe von kulturellen und sozialen Veranstaltungen stattfanden. Diese einzigartige Gelegenheit ermöglichte es der lokalen Gemeinschaft, den Steinbruch über sein industrielles Erbe hinaus zu erleben und ihn in einem neuen Licht zu sehen.

Gleichzeitig haben wir den Steinbruch und seine Umgebung sorgfältig erforscht, um seine inhärenten Qualitäten und ungenutzten Potentiale zu entdecken. Durch Gespräche mit Nachbar:innen, ethnographische Beobachtungen vor Ort und ausführliche Interviews mit multidisziplinären Expert:innen entdeckten wir spezifische Qualitäten und Potentiale, die zuvor unbemerkt geblieben waren.

Aus dieser intensiven Auseinandersetzung mit dem Steinrbuch wurden in einem Sense-Making Prozess drei unterschiedliche Zukunftsthemenfelder identifiziert. Jedes der drei Themenfelder baut auf einer einzigartigen Kernqualität und einem einzigartigen Potenzial des Steinbruchs auf:

  1. Nutzungsvielfalt der Vertikalen
  1. Wunden als Potentiale verstehen
  1. Steinbruch als Zukunfts-Ökosystem

Diese drei Themen dienten als Vorlage für die nächste Phase des Prozesses, einen zweitägigen Workshop, an dem etwa 25 Akteur:innen aus verschiedenen Interessensgruppen teilnahmen. Zunächst wurden die Teilnehmer:innen bei einer Vor-Ort-Begehung mit dem Steinbruch vertraut gemacht, um die Qualitäten des Steinbruchs aus erster Hand zu erfahren.

Anschließend teilten wir die Teilnehmer:innen in drei Gruppen ein, entsprechend der 3 Zukunftsthemenfelder. Daraufhin erarbeiteten die Workshop-Teilnehmer:innen gemeinsam konkrete Ideen zu den zuvor identifizierten Merkmalen und Potenzialen des Steinbruchs und versuchten diese sowohl in seinem historischen Kontext als auch in seinen aktuellen und zukünftigen Perspektiven zu verankern. Dieser Ansatz zielt darauf ab, Konzepte und Ideen zu entwickeln, die vom Kern des Steinbruchs ausgehen und eine Inside-Out-Perspektive widerspiegeln.

Um einen tieferen Einblick in die Details unseres Projekts und die Transformation des Steinbruchs zu erhalten, laden wir Sie ein, die Geschichte des Projekts zu lesen, die wir in Kürze veröffentlichen werden!

Die ersten gewonnenen Erkenntnisse 

Obwohl unser Projekt in Vorarlberg noch nicht abgeschlossen ist, hat es uns bereits wertvolle Einblicke in die Welt der adaptiven Umnutzung gegeben. Bei der Erforschung der Umnutzung von stillgelegten Industriearealen haben wir folgende erste Erkenntnisse gewonnen:

  1. Innovation jenseits der Kreation: Innovation ist nicht immer gleichbedeutend mit einer Neuschöpfung. Die Revitalisierung bestehender Strukturen erfordert eine einzigartige Mischung aus fantasievollem Denken, Verhandlungsgeschick und einem ausgeprägten Verständnis für das Zusammenspiel von Vergangenheit und Zukunft.
  1. Nachhaltigkeit durch verlängerte Lebenszyklen: Um die Umweltkrise zu bewältigen, müssen wir in Zeiträumen denken, die über unseren unmittelbaren Zeithorizont hinausgehen. Statt immer wieder neu zu bauen, spart die Revitalisierung des Alten viel graue Energie und ist ein vielversprechender Weg in eine nachhaltigere Zukunft. Neue Konzepte sollten sich nicht auf die Anforderungen der Gegenwart beschränken, sondern flexibel und anpassungsfähig bleiben, so dass ihre Lebenszyklen in die Zukunft reichen.
  1. Vergessen Sie die Vergangenheit nicht: Was heute nutzlos erscheint, hat der lokalen Gemeinschaft und der Industrie wahrscheinlich einmal einen bedeutenden Mehrwert gebracht. Wenn wir die historische Bedeutung mit den heutigen Bedürfnissen verbinden, können wir einen sinnvollen Fortschritt schaffen, der mit den regionalen Bestrebungen und dem wirtschaftlichen Wert im Einklang steht.
  1. Die Kunst der bewussten Transformation: Umnutzungsprojekte beginnen nicht mit visionären Konzepten, sondern entwickeln sich aus dem geduldigen Eintauchen in das Gefüge bestehender Strukturen. Die sorgfältige Auseinandersetzung mit Materialität, sozialer Bedeutung und kultureller Identität entschlüsselt den Bauplan für eine sinnvolle Zukunft.
  1. Kräfte bündeln: Anpassungsfähige Umnutzungen basieren auf guter Zusammenarbeit. Die Einbeziehung verschiedener Interessengruppen, insbesondere der lokalen Gemeinschaft, führt zu unschätzbaren Erkenntnissen und Assoziationen zutage, die den Räumen Leben einhauchen und ihre Wirkung verstärken. Es ist wichtig zu verstehen, dass Zusammenarbeit in diesem Sinne über den Austausch von Ideen und die Suche nach Kompromissen hinausgeht. Es geht darum, ein gemeinsames Verständnis davon zu entwickeln, was ein Ort und eine Gemeinschaft brauchen und wollen, und dieses Verständnis während des gesamten Prozesses gemeinsam zu unterstützen.

Während wir die laufende Transformation des Steinbruchs in Ludesch weiter begleiten, dienen uns die bisher gewonnenen Erkenntnisse als Wegweiser zu einer nachhaltigeren, zweckmäßigeren und harmonischeren gebauten Umwelt.

Wenn Sie selbst ein vergleichbares Transformationsprojekt planen oder mehr über unseren Ansatz erfahren möchten, können Sie sich gerne jederzeit an uns wenden. Gemeinsam können wir Innovationen vorantreiben, ohne bei Null anfangen zu müssen, und zu einer nachhaltigeren Zukunft für unsere gebaute Umwelt beitragen.

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Referenzen

  • Gestalten, Lang, R., Flanagan, R., & Klanten, R. (2022). Building for Change: The Architecture of Creative Reuse. Gestalten.