Was bedeutet die VUCA Welt?

Autoren: Markus Peschl & Michal Matlon

Wenn wir auf das Jahr 2020 zurückblicken, gibt es keinen Zweifel daran, dass wir in einer VUCA-Welt leben. Das Akronym, das dem Militärjargon entspringt, findet heute breite Anwendung in Wirtschaft und Gesellschaft. Es beschreibt eine Welt, die volatil, unsicher, komplex und mehrdeutig ist (im Englischen also “volatile, uncertain, complex, and ambiguous”). Was aber bedeuten diese Begriffe – und welche Konsequenzen haben sie für unsere Organisationen?

Volatilität: Ein hohes Maß an Instabilität und Veränderung

Volatilität beschreibt die Geschwindigkeit der Veränderung in einer gegebenen Situation. Zum Beispiel sind die Aktienmärkte volatil und ein Ausdruck dessen ist, dass Unternehmen manchmal innerhalb weniger Tage bis zu 30 % ihres Wertes verlieren. Dasselbe gilt für das Wetter. Wenn etwas volatil ist, ist es instabil und damit oft unvorhersehbar. Das bedeutet aber nicht unbedingt, dass volatile Situationen kompliziert oder schwerverständlich sind. Je höher aber die Volatilität ist, desto geringer ist unsere Fähigkeit, vorherzusagen, wie sich diese entwicklen werden. 

All das bedeutet ein hohes Risiko – und aus diesem Grund werden volatile Situationen und Umgebungen oft als negativ erachtet. Sie entziehen sich unserem Bedürfnis nach Kontrolle. Langfristig gesehen eröffnet ein hohes Maß an Volatilität jedoch unerwartete Chancen für Innovationen – denn sie bricht mit bestehenden Mustern und Routinen und eröffnet Raum für Neues.

Volatile

Unsicherheit: Mangelndes Wissen über die Auswirkungen unseres Handelns

Unsicherheit bezieht sich auf Ereignisse oder Handlungen, über die wir nicht genügend Informationen haben, um ihren Ausgang vorherzusagen. Solche Ereignisse, bzw. Handlungen müssen aber nicht unbedingt volatil sein. Manchmal sind wir uns deren Ausgang lediglich nicht sicher. Dies sieht man vor allem in unsicheren Umgebungen, in denen wir nur schwer oder sogar gar keine Pläne entwicklen können, um unsere Ziele zu erreichen – denn wir verstehen in solchen Fällen nicht, was darin vor sich geht und vor allem was als nächstes passieren wird. 

Während der COVID-19-Pandemie rangen Regierungen und Behörden ständig damit, zu entscheiden, welche Maßnahmen sie ergreifen sollten. Denn selbst mit Hilfe aktueller Computermodellierung war es extrem schwierig zu bestimmen, welche Entscheidungen wirksam sein würden und wie sich diese auf Wirtschaft und Gesellschaft insgesamt auswirken könnten. 

Uncertain

Was uns dabei helfen kann, uns in unsicheren Situationen zu orientieren, ist ihre vielfältigen Ausprägungen zu erkennen und zu verstehen, wie wir mit dieser Vielfalt umgehen können:

1. Eine ausreichend klare Zukunft: Vernachlässigbare Unsicherheit

In diesen Situationen können wir die Mehrdeutigkeit beinahe ignorieren. Wir haben hinreichende Daten, um zu bestimmen, welche Schritte wir unternehmen müssen, um das gewünschtes Ergebnis zu erreichen. In so einem Fall können wir Standardwerkzeuge wie Marktforschung und Geschäftsplanung verwenden, um eine Strategie zu entwickeln.

2. Alternative Zukünfte: Unsicherheit darüber, welche Richtung die Zukunft einschlagen wird

In diesem Fall gibt es eine Reihe von bekannten Möglichkeiten, in welche sich die Zukunft alternativ entwicklen kann. Jedoch ist nicht einfach zu entscheiden, welche davon eintreten wird. Bei Geschäftsinnovationen können wir hier die Lücken zwischen Nachfrage und den vorhandenen Lösungen analysieren, um diese infolge zu schließen. Die Herausforderung besteht dabei darin, die genannte Lücke so schnell und kostengünstig wie möglich zu füllen. Verstehen kann man dies als einen Such- und Optimierungsprozess, durch welchen unsere Ressourcen besser einsetzt werden.

3. Entdeckung von möglichen Zukünften: Unsicherheit über unbekannte, aber bereits vorhandene Wege

Wir sind mit einer Reihe möglicher Zukünfte konfrontiert, aber wir können nicht genau sagen, was diese denn eigentlich sind, bzw. worin sie bestehen. Die Ergebnisse unserer Handlungen sind somit unvorhersehbar. Anstatt also die beste Lösung aus einer Reihe von bekannten zu identifizieren und zu wählen, müssen wir Lösungen zunächst entdecken. Die Nachfrage existiert also bereits, das Angebot jedoch nicht. Andersrum könnten wir aber bereits über eine Technologie verfügen, nach der jedoch keine Nachfrage besteht. Für Führungskräfte und Mitarbeiter bedeutet das, sich öffnen zu müssen und deren Aufmerksamkeit zu schärfen. Denn unerwartete Lösungen müssen, wenn sie auftauchen, erkannt und dann durch Versuch und Irrtum erkundet werden. Dies führt in der Regel zu einem Anpassungsprozess, der als inkrementelle Innovation bezeichnet wird.

4. Echte Offenheit und Mehrdeutigkeit der Zukunft: Unsicherheit über die Zukunft, die nicht nur unbekannt ist, sondern auch nicht vorgefunden werden kann

Während der höchsten Stufe der Unsicherheit sind weder das Problem noch die Lösungen bekannt und letztere verändern sich ständig. Aus einer Design-Perspektive wird dies als “wicked problem” bezeichnet. Um eine solche Situation zu nutzen, müssen wir das Problem und die Lösungen durch einen “Co-Creation”-Prozess zuallererst ins Leben rufen. Dabei können wir uns nicht auf bisherige Erfahrungen oder “Best Practices” verlassen. 

Ob es darum geht, komplexe Verkehrspolitik aus dem Boden zu stampfen oder das Projektmanagement Ihrer Organisation zu digitalisieren – es ist beinahe unmöglich, sich vorzustellen, wie die Welt dabei in Zukunft aussehen wird. Wir müssen die Zukunft aktiv durch radikale Innovation gestalten, indem wir das, was sich abzeichnet, aufgreifen und zwar dann, wenn es im Werden begriffen ist. Denn genau so können wir es in eine wünschenswerte Realität zu überführen. Diese Ausgangssituation ist die eigentliche Herausforderung unserer Welt von heute.

Komplex: Eine große Anzahl von Wechselwirkungen führt zu einer Überlastung durch Information

Komplexe Systeme bestehen aus einer unüberschaubar großen Anzahl von Teilen, die miteinander verbunden sind und miteinander interagieren. Denken Sie nur an ein menschliches Gehirn, das aus Milliarden von Neuronen besteht. Diese Wechselwirkungen führen zu sogenanntem nicht-linearen und emergenten Verhalten. In den meisten Fällen sind die Ursachen für diese Verhaltensweisen nicht in den einzelnen Teilen des Systems zu finden und es gibt keine zentrale Instanz, die sie plant oder kontrolliert. Vielmehr ist die Kontrolle über die Teilsysteme über das Gesamtsystem verteilt und das Verhalten des letzteren entsteht über einen dynamischen Prozess.

Ebensolche Systeme sind komplex und es ist sehr herausfordernd, sie vorherzusagen oder sie zu kontrollieren, selbst dann, wenn wir ihre einzelnen Teile und Subsysteme verstehen. Wir können uns also kein reduktionistisches Denken erlauben, um sie umfassend zu beschreiben. Lebende und soziale Systeme, wie Organisationen und Märkte, sind komplex. Das bedeutet auch, dass die Veränderung einer einzelnen Variable sich unerwartet auf alle anderen auswirken und neue Rückkopplungsschleifen erzeugen kann.

Confusion is part of the game. And actually being frightened is part of the game, too. You have to figure out how to engage with that confusion, engage with that fear, and flip that into an opportunity.

Bob Johansen

An dieser Stelle muss auch erwähnt werden, dass wenn wir komplexe Systeme zu stark belasten, diese auch zusammenbrechen können. Das lässt sich beobachten, wenn die Aktienmärkte einbrechen, das Klima irreversible Veränderungen erfährt oder wenn lebende Organismen sterben. Jede Veränderung in ihnen kann störende, schnelle und unerwartete Folgen nach sich ziehen. Diese Eigenschaft kann also negative Auswirkungen haben (wie im Falle der Klimakrise), die abgefedert werden müssen. Sie kann aber auch zu unseren Gunsten genutzt werden (vor allem auch durch Organisationen und Unternehmen). Denn komplexe Systeme können eine Quelle der Innovation sein.

Deshalb ist es wichtig, in das Verständnis und die wohl durchdachte Gestaltung solcher Systeme zu investieren. Wenn ein Unternehmen zukunftsorientiert und innovativ sein will, so muss es seine neuen Nischen (Zukunftsmärkte, neue Angebote) proaktiv ausgestalten. Es muss also den Wandel hin zu einem „Enabling Space“ vollziehen. Und dies erfordert ein völlig anderes Re­per­toire an Prozessen, Denkweisen, Fähigkeiten und Räumen. Wettbewerbsvorteile in komplexen Märkten fordern die Fähigkeit ein, neue Chancen zu erkennen, zu gestalten und schlussendlich zu ergreifen. Eine einfache kontinuierliche Verbesserung der bestehenden Fähigkeiten reicht heute nicht mehr aus.

Complex

Mehrdeutig: Mangel an Klarheit darüber, wie eine Situation zu interpretieren ist

Wie der Begriff schon nahelegt bedeutet die Mehrdeutigkeit einer Situation, dass deren Bedeutung vage, unklar, unvollständig, unscharf oder sogar widersprüchlich ist. Da mehr als eine Interpretation einer solchen Situation möglich ist, besteht ein Mangel an Klarheit, nämlich in dem Sinne, dass es nicht lediglich eine einzige Deutungsmöglichkeit gibt. Der Kontext spielt für die Mehrdeutigkeit eine entscheidende Rolle. Wenn wir uns unserer Perspektive (also unseres kontextuellen Bezugsrahmens) bewusst sind und diese ändern, kann unser Blick auf das zu Verstehende klarer werden. Das Ändern des Kontexts kann nämlich neue Informationen freilegen, deren Berücksichtigung für eine fundierte Entscheidung in mehrdeutigen Situationen notwendig ist. 

Ähnlich wie die Komplexität kann die Mehrdeutigkeit als Quelle von Neuartigkeit angesehen werden: Da sie mehr als nur eine Interpretation anbietet, können wir in der Unschärfe einer Situation immer ein unerwartetes Element der Neuartigkeit antreffen. Dies erfordert jedoch ein hohes Maß an Bewusstsein, Kreativität sowie Beobachtungs- und Reflexionsfähigkeit, um einer Situationen jene neuartigen Interpretationsmöglichkeiten zu entlocken.

Ambiguous

Warum es wichtig ist, die VUCA-Welt im Blick zu behalten

Oft können wir beobachten, dass Menschen und Organisationen Angst vor der VUCA-Welt haben. Sie gibt uns das Gefühl, die Kontrolle zu verlieren. Wenn wir die Zukunft nicht vorhersagen können, eine Situation nicht verstehen oder nicht wissen, wie wir sie beeinflussen können, fühlen wir uns machtlos. Diese Reaktion ist nur natürlich, denn unsere Gehirne haben sich regelrecht als “Vorhersagemaschinen” (“prediction machines”) entwickelt. In einer relativ stabilen Umgebung hat dies (evolutionsgeschichtlich) lange gut funktioniert. 

Unsere heute VUCA-Welt ist jedoch das genaue Gegenteil einer stabilen, vorhersehbaren Umwelt. Sie arbeitet also zunächst gegen uns und verursacht Verwirrung oder Angst. Sie kann zu Gefühlen der Unsicherheit, Motivationsverlust, zum Rückgang der Kreativität und einer Erosion des Vertrauens führen. In Unternehmen lähmt es Entscheidungsfindungprozesse, veranlasst kurzfristiges Denken und Aktivitäten, die bloß um des Aktivseins willen abgehalten werden. Auf diese Weise wird die Organisation selbst zu einer VUCA-Umwelt.

Die Konfrontation mit der VUCA-Dynamik erfordert ein kontinuierliches Wahrnehmen, Beurteilen, Reflektieren, “Sense-Making” und aktives Verfolgen der externen und internen Umwelt. Wir dürfen uns in unserem Denken nicht auf Wettbewerber, die eigene Branche, Anwender oder staatliche Vorgaben beschränken. Wir müssen auch Veränderungen in Wertesystemen, sozialen und politischen Kontexten oder technologischen Entwicklungen beobachten. 

Ein Unternehmen muss „Sinnesorgane“ und Kapazitäten kultivieren, um für solche Veränderungen, die weit über die klassischen Felder unternehmensanalytischer Prozesse hinausgehen, sensibel, erreichbar und gegenüber ihnen achtsam zu sein. Dies ist zweifelsohne eine schwierige Aufgabe. Aber Unternehmen, die es schaffen, diese Fähigkeiten zu entwickeln, werden einen starken, entscheidenden Vorteil hinsichtlich deren Zukunftsfähigkeit und deren Vermögen zur radikalen Innovation haben. Sie werden in der Lage sein, die Potenziale der VUCA-Welt umfassend auszuschöpfen.

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