Obdach Wien: Wenn sich alles auf einmal ändert

  • Der Kunde betreibt ein Tageszentrum für obdachlose Frauen.
  • Das Zentrum hat einen neuen Standort bezogen, das Unternehmen stellt sich neu auf.
  • theLivingCore hat einen Plan zur Schulung von Führungskräften entwickelt, den Umzug unterstützt und das Onboarding neuer Mitglieder im – nun doppelt so großen – Team begleitet.
  • Aufgrund der Verbundenheit des Teams mit dem alten Standort hat theLivingCore den Prozess des „Loslassens“ begleitet und Offenheit und Neugierde für die Zukunft geweckt.

Obdach Ester zieht ins Cape 10 und führt die „duale Führung“ ein

Obdach Ester ist ein Tageszentrum für obdachlose Frauen, das 365 Tage im Jahr geöffnet hat. Obdach Ester bietet Schutzraum für Frauen von der Straße sowie eine Basisversorgung: Aufenthalt in einem trockenen, warmen Raum, Möglichkeiten zur Körperhygiene, Bekleidung und Lebensmittel sowie Beratungs- und medizinische Begleitangebote.

Bis vor kurzem war die Heimat von Obdach Ester im 6. Wiener Gemeindebezirk; im Jahr 2021 fand dann der Umzug ins Cape 10 – Haus der sozialen Innovation und Zukunft in den 10. Bezirk statt. Wir durften das Team von Obdach Ester beim Umzug begleiten und dabei unterstützen, die vielen Aspekte dieses Veränderungsprozess sinnvoll zu integrieren. Im Gespräch mit Kibar Dogan, Teamleiterin von Obdach Ester, lassen wir das Jahr noch einmal Revue passieren.

Die 4 Herausforderungen bei der Umzug von Obdach Ester

Auf die Herausforderungen angesprochen, die so ein Umzug mit sich bringt, überlegt Kibar nicht lange und nennt uns gleich vier.

  1. Erweiterung des Raumangebots für Klientinnen. Obdach Ester bezog komplett neue Räumlichkeiten und konnte dadurch die Anzahl der verfügbaren Plätze für Klientinnen von 50 auf 100 verdoppeln. Dabei war dem Team bewusst, dass der Umzug während der Pandemie eine Hürde für die Klientinnen darstellte. Außerdem benötigte man nun auch mehr Personal.

  2. Vergrößerung des Teams. Vor dem Umzug war das Team von Obdach Ester überschaubar: 6 Sozialarbeiterinnen und 6 Betreuerinnen. Noch während des Umzugs fand – mitten in der der Pandemie – ein umfangreicher Bewerbungsprozess statt. Wichtig war Kibar dabei, dass die Bewerberinnen trotz Pandemie die Chance hatten, sowohl ihren Arbeitsort als auch ihre Kolleginnen kennenzulernen und zu “schnuppern”. Heute arbeiten bei Obdach Ester 12 Sozialarbeiterinnen und 20 Betreuerinnen.

  3. Neue Teamleitung und Führungsmethoden. Durch die geplante Teamerweiterung und angeregt durch ein vorhergehendes Projekt zu “neuen Leadership-Methoden”, das von theLivingCore durchgeführt wurde, haben Kibar Dogan und ihre Vorgesetzte kurz vor dem eigentlichen Umzug das Konzept der “dualen Führung” vorbereitet. Duale Führung bedeutet kurz gesagt, dass sich zwei Personen eine Führungsposition teilen. Was in der Theorie einfach klingt, muss in der Praxis mit viel Empathie und Vertrauen eingeführt und umgesetzt werden, damit duale Führung gelingen kann (siehe dazu weiter unten).

  4. Neue Aufgaben für das Team. Als Konsequenz all dieser Neuerungen ergaben sich für das Team überarbeitete und neue Aufgabenfelder. Die Karten wurden neu gemischt. Während des Umzugs und im Zuge des Teamerweiterungsprozesses in einem partizipativen und ko-kreativen Vorgehen neue Aufgaben, Prozesse und Handlungsabläufe festzulegen – pandemiebedingt ohne die Möglichkeit, sie vorab auszuprobieren und zu testen – war definitiv eine Herausforderung.

“Wenn ich zurückblicke, dann würde ich diese Zeit durchaus als große Herausforderung bezeichnen,” sagt Kibar. “Wenn sich alles auf einmal ändert, ist das natürlich eine Chance, weil man einen wirklich großen Schritt in die Zukunft machen kann – aber es fühlt sich über weite Strecken unsicher an.” Die Verantwortung, das Projekt zu einem erfolgreichen Abschluss zu bringen, war groß. Wäre sie ausgefallen, hätte das den Erfolg des gesamten Projekts gefährdet. Und genau an dieser Stelle sieht Kibar auch einen großen Vorteil in der dualen Führung.

“Ich empfinde die ‘duale Führung’, wenn sie funktioniert, als wahnsinnig wertvoll. Man kann sich austauschen, sich gegenseitig vertreten, Aufgaben aufteilen, man trifft Entscheidungen gemeinsam. Und, für mich wahrscheinlich das Wichtigste, man ist als Führungskraft nicht mehr so einsam”, meint Kibar.

kibar dogan
Kibar Dogan, team leader von Obdach Ester. Image: Obdach Wien

Wie die duale Führung funktionieren kann

Wir fragen, was es braucht, damit duale Führung funktioniert, und erhalten eine klare Ansage.

  • Die Führungskraft, die schon in der Organisation tätig ist, muss unbedingt in den Bewerbungsprozess eingebunden werden. Es muss klar sein, wie dieser Prozess angelegt ist und wie Entscheidungen getroffen werden. Idealerweise – das war bei Kibar der Fall – ist die bestehende Führungskraft bei den Hearings dabei und die Letztentscheidung wird in enger Absprache zwischen der bestehenden Führungskraft und der/dem Vorgesetzten gefällt.
  • Startet die zweite Führungskraft, braucht es Zeit, um sich kennenzulernen. Duale Führung lebt vor allem durch Vertrauen und ein “sich mögen” auf persönlicher Ebene. Für Kibar war hier das begleitende Coaching sehr wertvoll, weil es dadurch regelmäßig eine Auszeit vom Führungsalltag gab und Dinge besprochen werden konnten, die sonst vielleicht untergehen würden. Zum Beispiel:

    • Zwischenmenschliche Kommunikation: Ist ein “passt schon” wirklich ein “passt schon” oder verbirgt sich dahinter Unzufriedenheit;

    • Umgang mit der gemeinsamen Vorgesetzten: Man bespricht wichtige Themen immer gemeinsam und stimmt sich vorher ab;

    • Entscheidungen treffen: Abgestimmte Entscheidungen dauern zwar länger (ein “aus der Hüfte schießen” ist bei dualer Führung nicht mehr möglich), sind aber oft qualitativ besser;

    • Umgang mit den Teams: Fokus auf Werte und Haltungen, die dem Führungsteam wichtig sind, anstelle von starren Anweisungen und Regeln.

  • Darüber hinaus ist es wichtig, (selbst-konstruierte) Rollenbilder zu überwinden. Zum Beispiel verstand sich Kibar über Jahre als One-Woman-Show, als Ansprechperson für alle und in allen Belangen. Für sie war es wichtig, dieses Bild loszulassen und Vertrauen zu haben, dass ihre Kollegin Dinge – auch wenn sie sie anders macht – schon gut machen würde.

  • Eine wichtige Praxis, die sie und ihre Kollegin eingeführt haben, um Vertrauen aufzubauen und Entscheidungen abzustimmen, war daher ein regelmäßiger Abstimmungstermin. “Es geht nicht darum, immer einer Meinung zu sein,” meint Kibar. “Die Mitarbeiterinnen dürfen auch sehen, wenn wir nicht einer Meinung sind. Aber trotzdem gibt es eine Linie, die wir gemeinsam vertreten. Um diese Linie zu finden, sind die Abstimmungstreffen so wichtig.” 

Und trotzdem ist die duale Führung immer noch ein Ausnahmemodell.

“Einerseits steht dem sicher noch das Selbstbild der Führungskräfte im Weg. Duale Führung ist nichts für Ego-Führungskräfte. Bei der dualen Führung geht es darum, auch den anderen “strahlen” zu lassen,” betont Kibar. Darüber hinaus müssten aber auch organisationale Rahmenbedingungen geschaffen werden, die diese Veränderung im Selbstbild der Führungskräfte zulassen und unterstützen; zum Beispiel durch Ausbildungsprogramme, die nicht primär auf die Schulung neuer Methoden abzielen, sondern auf Reflexionsfähigkeit und auf persönliche Veränderung auf einer Haltungsebene.

Ratschläge für Führungskräfte im Veränderungsprozess

Wir fragen noch einmal nach: “Was möchtest du anderen Führungskräften, die vor einem Veränderungsprozess stehen, mit auf den Weg geben?”

Kibar überlegt nicht lange: “Was wirklich geholfen hat, war, dass wir lange geplant haben. Für viele Neuerungen haben wir gemeinsam Abläufe erarbeitet, sie mehrmals besprochen und ausprobiert. Es kommt dann sowieso immer anders, aber eine Basis zu haben, von der aus man improvisiert, gibt Sicherheit.” Und weiter? “Die Status-Quo-Treffen bei euch im (theLivingCore-)Büro waren immer etwas Besonderes. Es war so wie wenn man auf eine Insel fährt, dort seine gedanklichen Mitbringsel ausleert, neu sortiert und dann mit einer neuen Ordnung wieder in den Alltag geht. Das hat extrem geholfen.

Auch die Teamklausuren waren so eine Auszeit, davon hätten wir noch mehr machen sollen: sich Zeit nehmen, um Ängste und Wünsche zu besprechen. Und sich darauf besinnen, wofür wir das alles machen: für unsere Klientinnen. Was mir dabei besonders in Erinnerung bleibt, ist, dass ihr die Klausuren immer sehr vielfältig gestaltet habt; aber niemals mit Übungen, bei denen man das Gefühl hat, man soll sich lächerlich machen. Die Arbeit im gesamten Prozess war immer geprägt von Wertschätzung, aufrichtigem Interesse an den Personen und von dem Willen, jeden sinnvoll miteinzubeziehen.”

Bei Obdach Ester hat sich alles auf einmal geändert. Wer im neuen Zuhause im Cape 10 vorbeischaut, sieht, dass es eine Veränderung zum Guten war. Denn das ist etwas, was wir aus unserer Zusammenarbeit mit dem Fonds Soziales Wien mittlerweile wissen: In der Krise wachsen diese Menschen über sich hinaus und schaffen mit Herz und Mut Dinge, die unmöglich scheinen!

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