In den vergangenen Monaten haben wir uns mit einer entscheidenden Frage beschäftigt: Was macht eine Stadt wirklich lebenswert? Diese Frage bewegt nicht nur uns, sondern auch Stadtverwaltungen, Behörden, Wissenschaftler:innen und vor allem Bürger:innen weltweit. Von pulsierenden Metropolen bis zu ruhigeren Kleinstädten betrifft das Thema „Lebensqualität“ uns alle. Doch die Lebensqualität in Städten zu verbessern bedeutet nicht nur, sie attraktiver zu gestalten, es geht darum, diese Qualität langfristig nachhaltig zu sichern.
Trotz der universellen Bedeutung des Themas wird die Diskussion um lebenswerte Städte schnell kontrovers und politisch aufgeladen. Im Kern geht es bei Lebensqualität oft um Aspekte wie Bequemlichkeit, Zugänglichkeit, Freude, Sicherheit und Komfort. Doch all diese Kriterien sind subjektiv - was für den einen das Leben lebenswerter macht, kann für jemand anderen bedeutungslos sein. Dieser Konflikt von Bedürfnissen und Erwartungen führt zu Spannungen und erschwert die Entwicklung einer gemeinsamen Vision davon, wie wir leben wollen.
Die Lebensqualität unserer Städte zu verbessern und diese Verbesserungen dauerhaft zu verankern, erfordert zwangsläufig Veränderung. Doch Veränderung ist oft unbequem. Sie stellt den Status quo infrage und fordert bestehende Lebensweisen heraus. Man denke nur an die weltweit geführten Debatten darüber, ob mehr Platz für Autos oder Fahrräder geschaffen werden soll. Was wie eine einfache infrastrukturelle Anpassung erscheint, kann heftige Auseinandersetzungen auslösen, je nachdem, welches Stadtbild man vor Augen hat. Die einen sehen in einem neuen Radweg einen wichtigen Schritt in Richtung nachhaltiger und menschenfreundlicher Stadtentwicklung, während andere darin eine Bedrohung für ihre Parkmöglichkeiten oder die freie Fahrt sehen.
Diese Veränderungsresistenz entspringt oft der Angst vor dem Unbekannten. Wir gewöhnen uns an das, was wir kennen und empfinden jede Abweichung davon als Risiko. Doch sobald Menschen neue Räume erleben dürfen, erkennen sie oft überraschende Vorteile. Entscheidend ist jedoch, nicht beim bloßen Erleben stehen zu bleiben: Veränderung wird dann bedeutsam, wenn Menschen nicht nur gehört werden, sondern aktiv daran mitwirken, neue Formen des Zusammenlebens auszuprobieren und mitzugestalten. Durch Erfahrung kann aus Skepsis Unterstützung werden und aus einer Idee Realität. Die folgenden Beispiele zeigen, wie Städte weltweit genau das umsetzen.
In Bogotá etwa werden seit den 1970er Jahren sonntags ganze Straßen den Menschen überlassen. Während der Ciclovía werden über 120 Kilometer Straße für den Autoverkehr gesperrt und für Radfahrer:innen, Spaziergänger:innen, Skater:innen und Familien freigegeben. Mit rund 1,7 Millionen Teilnehmer:innen pro Woche ist die Ciclovía weit mehr als eine Mobilitätsmaßnahme: Sie ist eine kulturelle Institution, die den öffentlichen Raum zurückerobert, zugunsten des Gemeinschaftslebens und als Ökosystem für Kleingewerbe wie Fahrradwerkstätten oder Foodtrucks.
Solche kulturellen Veränderungen brauchen Zeit. In Paris hat ein jahrzehntelanger Investitionskurs in Radwege, Grünflächen und den öffentlichen Nahverkehr die Haltung vieler Menschen allmählich verändert. Im März 2025 stimmten die Pariser:innen für die schrittweise Sperrung von 500 Straßen für den Autoverkehr, zugunsten von Fußgänger:innen, Radfahrer:innen und mehr Grün. Das Vorhaben erstreckt sich über alle 20 Arrondissements; die Bevölkerung wurde in die Auswahl geeigneter Straßen einbezogen. Diese Transformation geschah nicht über Nacht. Paris hat jahrelang in Radinfrastruktur, ÖPNV und Stadtbegrünung investiert. Jeder Schritt half dabei, das Gespräch zu verändern, bis das Mutige zur Normalität wurde. Heute profitieren die Pariser:innen von ruhigeren Vierteln, einer saubererer Luft und erleben eine Stadt, die auf ihre Bedürfnisse ausgerichtet ist. Der Autoverkehr ist besonders im Stadtkern stark zurückgegangen, während das Radfahren zugenommen hat. Expert:innen schätzen, dass die „Végétalisation“-Strategie von Bürgermeisterin Hidalgo bereits messbar zur Abkühlung der betroffenen Viertel um 1 bis 4 Grad Celsius beiträgt.
Doch Transformation betrifft nicht nur Mobilität, sondern auch soziale Begegnung und Integration. In Nizza entwickelte sich aus einer einfachen Idee gegen Einsamkeit und Mangelernährung im Alter ein stadtweites soziales Essensprojekt. Im Jahr 2023 gestartet, bietet „Alegria“ Drei-Gänge-Menüs für nur 3€ an, serviert in Nachbarschaftsrestaurants von studentischen Freiwilligen. Die Initiative entlastet ältere Menschen finanziell und schafft zugleich generationenübergreifende Bindungen – ein oft unterschätzter Aspekt städtischer Lebensqualität. Da rund 30% der Bevölkerung in Nizza über 60 Jahre alt sind, wurde das Projekt schnell zum Erfolg. Anfang 2025 war das Programm auf mehrere Standorte ausgeweitet und hatte bereits über 10.000 Mahlzeiten serviert, ein Beweis dafür, dass Essen ein kraftvoller Motor für soziale Fürsorge und Gemeinschaftsbildung sein kann.
Während sich manche über ein gemeinsames Essen kennenlernen, kommen andere über Spiel und Bewegung zusammen. In Wien verbindet der Verein „Umdi Tischtenniskultur Wien“ Sport, öffentlichen Raum und Kultur durch Tischtennis. Ziel ist es, Pingpong in den Parks der Stadt zu fördern. Die Gruppe organisiert alles von zwanglosen Treffen bis hin zu hochauflösenden Turnier-Streams sowie Trainings speziell für FLINTA (Frauen, Lesben, intergeschlechtliche, nicht-binäre, trans- und agender Personen). Mit ihrem spielerisch-politischen Ansatz beleben sie vernachlässigte Orte und fördern sozialen Austausch zwischen Menschen, die sonst selten in Kontakt treten. Ein fröhliches Beispiel dafür, wie niederschwellige Aktivitäten das demokratische Miteinander stärken und Parks inklusiver machen können.
Lebensqualität zeigt sich auch darin, wie wir öffentlichen Raum erleben. Nehmen wir unscheinbare Straßenecken: Sie sind die Knotenpunkte eines Blocks und Treffpunkte aus allen Richtungen. Doch durch die autozentrierte Planung wurden viele von ihnen zu leblosen, mitunter gefährlichen Kreuzungen. Was wäre, wenn Kreuzungen wieder zu Orten der Begegnung werden würden? Buenos Aires ist ein Paradebeispiel für lebendige Straßenecken. Hier werden Kreuzungen bewusst als öffentliche Räume gestaltet. Durch einfache Maßnahmen, wie das Angleichen von Gehweg und Straße auf ein Niveau, entsteht das Gefühl eines „geteilten“ Raumes. Farbige Fassaden und offene Eingänge in Eckhäuser laden Passant:innen zum Verweilen oder Einkaufen ein. Ein großartiges Beispiel dafür, wie Stadtgestaltung, selbst in subtiler Form, Verhalten beeinflussen, spontane Begegnungen ermöglichen und ein Gefühl von Ort schaffen kann.
Der Weg zur lebenswerten Stadt?
Ob Seniorenessen oder geteilte Straßenecken, Tischtennis im Park oder autofreie Sonntage, jedes dieser Projekte zeigt, wie Lebensqualität konkret Gestalt annehmen kann. Sie machen deutlich: Eine lebenswerte Stadt ist kein fixer Zustand und kein universeller Masterplan. Sie ist ein Mosaik aus Experimenten, Werten und sich wandelnden Beziehungen zwischen Menschen und Orten.
Städte sind komplexe Ökosysteme, sozial, politisch und wirtschaftlich. Anstatt einen einheitlichen Weg zur Lebensqualität vorzugeben, haben wir gelernt, das Gegenteil zu schätzen: viele überlappende Wege, geprägt durch lokale Gegebenheiten. In unserer Arbeit mit Städten erinnern wir uns und unsere Partner:innen regelmäßig daran, dass echte Transformation Zeit braucht. Es geht nicht um den großen Bruch, sondern darum, Räume zu schaffen, in denen neue Formen des Zusammenlebens entstehen können: Schritt für Schritt, Straße für Straße.
In einer Zeit, in der schnelle „Kettensägenlösungen“ populär sind, ist es wichtig, den Wert der Langsamkeit zu betonen. Menschen brauchen Zeit, um nicht nur in den Wandel einbezogen zu werden, sondern ihn zu erleben, zu reflektieren und mit ihm zu wachsen. Lebensqualität entfaltet sich dann am stärksten, wenn Bürger:innen die Zukunft im Kleinen ausprobieren können, temporär oder im Pilotversuch.
Basierend auf unseren Erfahrungen möchten wir drei Prinzipien anbieten, für alle, die ihre Stadt lebenswerter machen wollen, ob als Politiker:in, Aktivist:in, Stadtplaner:in oder Bürger:in mit einer Idee:
Wir hoffen, dass wir mit diesen inspirierenden Projekten und Initiativen neue Ideen anstoßen können. Was würde deine Stadt lebenswerter machen? Welche kleine Veränderung könnte eine große Wirkung entfalten? Was funktioniert bereits? Und wie kann eine kleine Handlung heute den Weg für ein lebenswerteres Morgen ebnen?
Lasst uns das Gespräch fortführen, nicht nur über das, was möglich ist, sondern auch über das, was bereits funktioniert.
Feature Image: Urban Park
Foto 1: Ciclovía Bogota
Foto 2: Car-free Paris
Foto 3: Alegria Restaurant Nice
Foto 4: Table Tennis Association "Umdi Tischtenniskultur"
Foto 5: Active Street Corners in Buenos Aires
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